Über die Bedeutung von Ferdinand Ulrich

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Aktuelles | Bischof Dr. Stefan Oster

Ferdinand Ulrich war in vielfacher Hinsicht ein außergewöhnlicher Mensch und Denker. Philosophie war für ihn nie ein Glasperlenspiel im Elfenbeinturm des Denkens, sondern stets existenzieller Weg im konkreten Leben. Ausgehend von Thomas von Aquin und im ständigen Gespräch insbesondere mit Heidegger und Hegel stellt er schon im jungen Leben die Seinsfrage und legt mit 23 Jahren einen ersten schriftlichen Versuch mit dem Titel „Sein und Wesen“ vor, in dem im Grunde die großen Linien und tiefen Einsichten alles Späteren schon da sind.

Mit Thomas legt er das Sein als „Gleichnis göttlicher Güte“ aus und unternimmt einen zweifachen spekulativen Versuch: Wenn das Sein absichtslose Liebe ist und zugleich „reine Vermittlung“, dann lässt sich einerseits mit den denkerischen Mitteln der großen Tradition Schöpfung als Seinsschenkung deuten und spekulativ entfalten. Und zugleich lässt sich der Mensch mit seinem Vermögen von Vernunft und Willen als jenes Wesen auslegen, das in diese Seinsschenkung in herausragender Weise hineingestellt ist – und an dem sich zugleich der Sinn der göttlichen Seinsschenkung erweisen kann, indem der Mensch ausgerichtet auf Wahrheit und Liebe den Sinn des eigenen Daseins vollzieht – und eben darin zugleich Sinn, Wahrheit und Schönheit der Schöpfung bezeugt. Das große und eigentliche Hauptwerk Ulrichs, „Homo abyssus – Das Wagnis der Seinsfrage“, ist die buchstäblich ab-gründige (vgl. abyssus) Ausbuchstabierung dieser tiefen Intuition.   

In seinen wesentlichen Linien steht dieses Denken in der Tradition der großen metaphysischen Entwürfe einerseits. Aber im Anschluss an Heidegger vollzieht Ulrich die ontologische Differenz von Sein und Seiendem mit – und ist damit im Sinne Heideggers radikal kritisch im Blick auf Metaphysik und – mit einem Wort von Habermas – in gewissem Sinn auch „nachmetaphysisch“. Ja mehr noch: Ulrich denkt zutiefst aus der ontologischen Differenz und legt diese aus als einen „Verendlichungsweg“ des Seins zum Seienden. Das Sein ist schöpferische Liebe, die nicht sich selbst meint, sondern den Anderen und das Andere seiner selbst. Sein ist in gewisser Weise „nichts“, weil es je schon radikal dem Anderen übereignet ist – und zugleich ist Sein in gewisser Weise „alles“, weil schöpferische Fülle, aus ihm alles hervorgeht. Mit Thomas ist es also ein „simplex et completum, sed non subsistens“ (Thomas von Aquin, De Potentia, 1,1), es ist „einfach und vollständig“, also Fülle, aber es gründet nicht in sich, es ist kein Seiendes, das in sich steht, keine „Substanz“ – und damit ist es in gewisser Weise „nichts“.   

Mit diesem Nachvollzug der ontologischen Differenz öffnet sich Ulrichs Denken zugleich in die jüngere philosophische Tradition des Personalismus, für die die menschliche Person und ihre Fähigkeit zur Begegnung mit einem Du zentral geworden ist. Ulrich zieht die Linien des Denkens der ontologischen Differenz aus zur Deutung von personaler Begegnung als Vollzug der dialogischen Differenz. Und wie Ulrichs Seinsexegese auf ihrem Weg fortwährend einer Vielzahl von Versuchungen begegnet, das Sein zu verbegrifflichen oder zu vergegenständlichen – um es damit in die Verfügung des Denkens zu bekommen, so zeigen sich im Phänomen der Begegnung von Person zu Person fortwährend Versuchungen, dem Anderen nicht „als Anderen“, also nicht um seinetwillen, nicht aus Liebe zu begegnen, sondern hintergründig immer auch „um meinetwillen“; also um willen meiner Machtausübung, meiner Manipulation, meiner Bedürfnisbefriedigung und anderem mehr.

Damit wird auch deutlich: Das Denken Ulrichs lebt als Philosophie zugleich tief aus der christlichen Offenbarung. Die radikale Deutung des Seins als Liebe wird erst vom Gekreuzigten her ermöglicht, der als Sterbender, Hingegebener, letztlich Toter alles gegeben hat (Fülle) und darin zugleich sich selbst hat töten, hat vernichten lassen (Nichts). Aber gerade darin hat er auch als Auferstandener den endgültigen „Sieg der Liebe“ bezeugt. Diese Selbigkeit von Fülle und Nichts, von Armut und Reichtum, von Macht und Ohnmacht der Liebe ist ein Schlüssel zum Verstehen der Philosophie dieses so großen und zugleich bescheidenen Mannes des Denkens.

Ferdinand Ulrich war bei alledem nicht nur ein Lehrer des Denkens, sondern auch ein Lehrer des Lebens und des Glaubens, ein Lehrer des geistlichen Lebens und damit zutiefst ein Mann der Kirche. Der so erstaunliche Reichtum, die Fruchtbarkeit, die Gesprächsfähigkeit seiner Philosophie ereignet sich bei ihm fortwährend in dienender Weise, im Sich-geben, im Sich-verschenken. So haben ihn zahllose Menschen erlebt, denen er Wegbegleiter war. Auf die Frage, ob es einen frühen oder späten Ulrich gibt, hat er einmal sinngemäß geantwortet: „Nein, alles einfachste Kost. Im Grunde habe ich mein ganzes Leben lang nur einen Gedanken variiert: Sein ist Liebe umsonst.“

Warum wir ihn also brauchen? Weil er nach meiner Einschätzung wirklich einen Weg zeigt, wie der Hiatus zwischen moderner Philosophie und Theologie aus einer Ontologie des Seins als Liebe überbrückt werden kann, bzw. überbrückt ist. Damit zeigt er zugleich, wie Metaphysik immer noch möglich ist, ohne ihren totalisierenden Versuchungen der Verbegrifflichung oder der Vergegenständlichung des Seins zu verfallen. Und er zeigt ebenfalls, was eine christliche geprägte Philosophie für ein Verständnis des Menschen und seiner Freiheit zu leisten imstande ist. Das Denken von Ferdinand Ulrich ist nach meiner Einschätzung in diesen wesentlichen Fragen fruchtbarer als die allermeisten Versuche seiner Zeitgenossen. Und weil er zugleich ein Mann des Glaubens und der Kirche war, hinterlässt er damit ein reiches Vermächtnis für die Kirche.

Möge die auf dieser Website präsentierte Auswahl von Texten und Vorträgen einen ersten Zugang zum Denken Ulrichs ermöglichen und erleichtern.

Quelle: Foto von Hilke Jabusch, Ferdinand Ulrich-Archiv