Spekulative Entfaltungen eines 23-Jährigen

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Aktuelles | Andrea Schwemmer

„Die Philosophie steht in einer Stunde der Entscheidung“. Mutig betritt der 23jährige Ferdinand Ulrich mit dieser Diagnose des Zustands seines Faches die Arena des akademischen Diskurses. Er ruft die Philosophie in seinem ersten Versuch einer Dissertation mit dem Titel „Sein und Wesen. Spekulative Entfaltung einer anthropologischen Ontologie“[1] zur Unterscheidung und Entscheidung auf.  Aus seiner Diagnose heraus will Ulrich im Grunde eine vorbereitende Unterscheidung selbst durchführen, indem er die „spekulativen Grundlagen dieser Selbstkritik, im Horizont eines ontologischen Selbstverständnisses des Menschen aus einer grundsätzlichen Prinzipienerhellung von Realität, Idealität und Bonität […]“[2] entfaltet.

Bereits im Vorwort des jungen Ulrichs wird gleich zu Beginn nicht nur der Gegenstand dieses Textes, sondern ein durchgängiges Thema seiner Schriften – die „‚Krisis‘ als Entscheidung und Unterscheidung“[3] – eingeführt, so Martin Bieler. Und wer das spätere Werk Ulrichs etwas besser kennt, wird bereits hier sehen, mit welcher tiefen Intuition, mit welcher spekulativen Kraft und Begabung der junge Philosoph sein Thema durchmisst. Nicht zum letzten Mal wird diese Kühnheit – wie in diesem Fall  bei seinem Doktorvater – den Verdacht erwecken, hier maße sich einer etwas an, was ihm nicht oder wenigstens in diesen jungen Jahren noch nicht zusteht. 

„Mit ‚Sein und Wesen‘ sind die Grundlagen gelegt.“[4]

Bieler, der sich intensiv mit Leben und Werk Ferdinand Ulrichs auseinandergesetzt hat, beleuchtet in der Einleitung zur Neuausgabe von Ulrichs Hauptwerk „Homo abyssus“ auch dessen „Vorstufen“[5], zu welchen der Text „Sein und Wesen“ maßgebend gehört. „Als Problemexposition ist diese Erstlingsschrift in sich bemerkenswert konsistent und enthält bereits entscheidende Grundeinsichten“[6].

Während der Semesterferien 1954 verfasste Ferdinand Ulrich die wesentlichen Teile von „Sein und Wesen“. Er, geboren 1931, nach dem Krieg zusammen mit seiner Mutter aus Mähren vertrieben, konnte sich für die Abfassung der Schrift bei einem Bekannten in Mühldorf einquartieren, wo er bessere Arbeitsbedingungen vorfand als im überaus beengten Zuhause bei der Mutter. Während des Wintersemesters diktierte er dann die Arbeit in einem Münchner Schreibbüro, um sie im Februar 1955 als Dissertationsschrift bei dem bekannten Philosophen und Kulturtheoretiker Prof. Dr. Alois Dempf an der Ludwig-Maximilians-Universität einzureichen. Dieser nahm die Arbeit jedoch nicht als solche an und gab sie dem noch jungen Studenten zurück.[7]

Bemerkenswert ist, dass schon in diesem Frühwerk Konstanten von Ulrichs Denken und Arbeiten klar erkannt und formuliert werden: „Diese Arbeit ist aus Kontemplation erwachsen und kann deshalb auch nur kontemplativ, in ‚kreisendem Denken‘ nachvollzogen werden. Darin legitimiert sie ihre integrale Tendenz, d.h. sie steht wesenhaft im Gespräch“[8]. Martin Bieler gibt in der oben erwähnten Einleitung zu „Homo abyssus“ hilfreiche Hinweise für die Annäherung an eben dieses Denken und resümiert: „Wer sich […] auf das Abenteuer einer Entdeckung von Ulrichs Denken einlässt, der darf darauf gefasst sein, auf eine Goldader zu stoßen.“[9]

Auf dieser Homepage wird „Sein und Wesen“ als das beachtliche Erstlingswerk des jungen Philosophen zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.



[1] Typoskript im Ferdinand-Ulrich-Archiv, Vorwort S. 1.
[2] ebd.
[3] Martin Bieler in der Einleitung zu Ulrichs Hauptwerk, S. XVI.
[4] ebd., S. XXV.
[5] ebd., S. XVI.
[6] ebd.
[7] vgl. Gesprächsnotizen im Ferdinand-Ulrich-Archiv.
[8] Typoskript im Ferdinand Ulrich-Archiv, Vorwort S. 1.
[9] Martin Bieler in der Einleitung zu Ulrichs Hauptwerk, S. XV.

Ferdinand Ulrich, Quelle: Digitales Archiv im Ferdinand-Ulrich-Archiv